Brief an ein Haus

Liebes Haus, da stehst Du in der Straße wie immer und ahnst nichts Böses. Du bist Passanten vertrauter Fixpunkt, Du schmiegst Dich an Deinen Garten, als ob nichts wäre. Nur eine Wohneinheit. Kein Reetdach. Kein Erkerchen. Keine vier Parkplätze. Keine Geldanlage. Keine Rendite. Keine Vermietung. Nur ein Eingang. Nicht mal Sprossenfenster. Und Apfelbäume im Garten. Ja, Haus, kriegst Du denn gar nichts mehr mit? Du fällst aus der Zeit. Weg mit Dir, Dein Grundstück ist zu groß, da ist doch viel mehr drin. Hinfort. Zack, zack. Keine Woche, dann bist Du weg und nächste Saison, ha, da wohnen hier schon viele andere ganz anders. Für wenige Tage, für ein paar Wochen.

Abriss1

Wie, Du warst berufstätig? Na, und? Das ist doch keine Entschuldigung. Hier bei Dir hat ein Arzt gearbeitet vor langer Zeit? Da erinnert sich doch kein Mensch mehr dran, wen interessiert denn das. Tischdecken gabs bei Dir zu kaufen? Ich bitte Dich – wer benutzt noch Tischdecken! Wir haben unseren Stammplatz beim Jünne oder in der Sansibar. Weg mit Dir. Deine Lage besiegelt Dein Schicksal: Da ist mehr drin. Was macht der junge Sylter Tischler da? Der sichert sich eine Deiner alten Türen? Sentimentaler Idiot. Tsss, als ob es darauf ankommt, dass Irgendetwas von Dir bleibt…

Abriss2

Hauuuus? Bevor Du gehst, sag es den anderen noch schnell, rasch, das sollten sie alle wissen. Jeder von Euch könnte als Nächster dran sein, wiegt Euch nicht in Sicherheit! Es geht schnell und immer schneller, Alter schützt genauso wenig wie Jugend: Wenn ein riesiges Holzschild in Deinem Garten heranwächst und Dir die Sicht verstellt, wenn Dir langsam kalt und kälter wird, wenn der Bagger durch die Straße scheppert und das Geräusch immer näher kommt, dann ist alles zu spät. Nichts für ungut, Haus, und Tschüss, wehr‘ Dich nicht. Du hast keine Chance.

 

 

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