Sylt legt auf: „Camerata Budapest“ to go
Es drängt sich ein Ausflug nach Kalenderspruchland auf. Nichts bleibt, wie es ist, die einzige Konstante im Leben ist der Wandel, da kann man nix machen: Es scheint, dass Sylt mal wieder mit einer jahrzehntelangen Tradition brechen wird.
Knapp 20 hochkarätige Musiker, dieses Mal sind es 16, treffen sich immer im Juli und August auf Sylt, spielen ambitionierte klassische Konzerte in der Musikmuschel an der Promenade, mehrere Tage in der Woche, zwei Mal am Tag. Im Rücken das Kurzentrum, Sonne von vorne, schöne Töne im Ohr, anspruchsvoll und trotzdem eingängig, der Gast liebts. „Camerata Budapest“, oldschool als „Budapester Gefährten“ zu übersetzen, das ist seit 27 Jahren das einzige Orchester der Welt, dass es nur für und nur auf Sylt gibt, der möglicherweise allerletzte Ausläufer des traditionellen „Kurkonzerts“ aus den Anfängen des Nordsee-Tourismus. Feines Programm, echte Instrumente, echte Vollblutmusiker, montags immer Wunschkonzert, eine Klarinette und der Techniker sind bis heute von Anfang an dabei. Wir erfahren: Bläser sind treu, Streicher unruhiger, die haben häufiger mal gewechselt.
„Ein extraordinäres menschliches Orchester“, sagt der musikalische Kopf Zoltán Kontra, es traf sich also Jahr für Jahr zum Hochsaisonbeginn. „Jungs“, so nennt der Leiter die Musikerinnen und Musiker, auch, wenn „Mädchen“ dabei waren und sind, erfahrene Vollprofis aus den besten Orchestern Ungarns. Solche spielen normalerweise nie so, nie draußen, nie zusammen: eine intensive Probe und los gings. Unerschütterlich, zuverlässig wie Ebbe und Flut, vormittags, nachmittags, abends, im Wechsel mit den „Romada Singers“, den „Party Bands“ oder den legendären „Memories“.
27 lange Jahre. Anfangs machte sich das Publikum sogar „fein“ für die Abendkonzerte, nicht nur für die „Arien am Meer“ liefen manche in lang oder mit Jackett auf. Jene „Arien am Meer“, Sängerinnen und Sänger und die Camerata, die gibt es inzwischen nicht mehr. Ein Galaabend im Hochsommer mit für diesen Ort verhältnismäßig starker Dekoration, von engagierten Tourismus-Mitarbeitern schon morgens an die Muschel getackert, Blumen passend zum August, viel grün-weiß-rot, Säulen, gedrechselte Geländer, die Pizza gedanklich nicht so weit entfernt, Arien, hach, der Süden. Irgendwas mit Corona wirds gewesen sein, was dieses Sommerabendhighlight killte. Einen echten Abgesang auf die Arien gabs nie, sie waren schlicht auf einmal sehr subtil nicht mehr da, oder doch noch, nein, nie wieder gesehen. Du auch nicht? Nö. Im Jahr 2022 sangen Sopranistin Ingrid Kertesi und Tenor Otokar Klein ein letztes Mal, da schon einfach so, auf eigene Kosten.
Seit knapp zwei Jahren gibt es auf Sylt den „Sundowner“, er ist einer dieser etwas flachen Charmeure, ein Krawallmacher, der erstmal die Herzen im Sturm nimmt, weil niemand mit ihm gerechnet hat und er irgendwie heftig aber doch auch mitreißend und lustig ist. Eines Sonntagnachmittags tauchte er plötzlich auf, unglaublich laut, von 17 bis 22 Uhr ganz Westerland dominierend, wie sonst nur Silvester auf der Promenade: Musikmuschel, diverse DJs, etwas Nebelmaschine, ein Bongomann, der sich den Schritt betrommelte, dass einem schwindelig werden konnte. Die Neonstelen gingen im gleißenden Sommerabendlicht der Insel noch etwas unter, jemand mit einem Saxofon sorgte für Livegefühl, aber tatsächlich wurde „aufgelegt“. Und irgendwie zog dieser „Sundowner“ alle an, junge, alte, große, kleine. Die, die unterwegs in den Feierabend waren, bogen ab, Frischangereiste eilten herbei, Mann, war das laut, und dann diese Bässe, der Drop. Das war anders, das war wow, Wahnsinn, es wurde getanzt, einfach so, handsup, handsup, handsup, man war „ja noch nie auf einer Techno-Party“, und das im Hellen, ahnst du nicht. Ein paar Wochen später dann nochmal, da könnte man hingehen, lass uns da mal treffen, büschen windig, naja. Dann kam der Winter. Kurzes Saisonhoch im Dezember, ein DJ in der Muschel, handsup, handsup, handsup. Gleiche Musik, mehr Schlager, Mitternachts-Countdown, alles wie immer, frohes Neues, nächstes Glück, nächste Saison.
Als die Camerata jetzt Ende Juni anreiste, schwante ihr nichts Gutes. Irgendetwas hatte sich verändert, irgendetwas lag in der Inselluft, nicht wirklich greifbar. Viele „Cups“ um irgendwas mit Wassersport und Autos am nördlichen Ende der Promenade, aufgebaut, abgebaut, aufgebaut, abgebaut, abends wird nun auch dort bis 22 Uhr mal „aufgelegt“. Und dann war da wieder dieser „Sundowner“, plötzlich zehn Mal angesetzt im Sommer, in der Muschel, alle zwei Wochen. Immer häufiger rückten der „Camerata Budapest“ also schon ein, zwei Tage vorher die Getränkewagen von links und rechts während der Konzerte an der Promenade nahe, Bier und Gin, dann auch Fritten und Bratwurst.
Zoltán Kontra spürte Gesprächsbedarf, normalerweise gibt es Verträge für die Folgesaison wohl frühzeitig in der Spielzeit, Kalkulation, Vorbereitung und so. Allein, ein Termin beim „Insel Sylt Tourismus-Service“, der für die Belegung der Musikmuschel und dazugehörige Verträge zuständig ist, kam nicht zustande. „Ich wurde nicht empfangen“, sagt Kontra schlicht, und seufzt im Nachhinein, „Zeichen kann ich schon lesen“. Mitarbeiter gelöchert, Veranstaltungsleiter immer wieder gefragt, gefragt, rumgenervt, überall, geht es weiter, nein, keiner weiß was vor Herbst. „Ich habe da schon langsam geahnt, dass es aus ist“, sagt der Orchesterchef Mitte August in der Rückschau.
Gerüchte verbreiten sich oft schnell wie Töne in lauer Sommerluft, auf einer windigen Insel erst recht. Immer häufiger fragte das Publikum, es gibt viele Stammhörer, nach: Kommt ihr wieder? Aber „mehr als ein ‚Ich weiß es nicht‘, das gab es nicht zu sagen“, so Kontra. Ein Musiker, Stammzuhörer wie Syltfan, der lange bei den Münchner Philharmonikern war und weiß, wovon er redet, wenn er sagt, „die Camerata ist von unglaublicher Qualität“, initiiert erschüttert eine Unterschriftensammlung. Eine Petition („Unterstützen Sie die Zukunft der Camerata Budapest an der Promenade in Westerland“) geht von irgendjemandem aus dem Publikum online, offensichtlich schnell hochgeladen, Tempo scheint wichtig, und nicht pingelig durchformuliert. 1164 Unterschriften auf Papier in 4 Tagen, 181 Onlineunterzeichner, ein Zeitungsartikel folgt, nun ist ein Gesprächstermin möglich. An einem sehr sonnigen Donnerstag im August schließen sich die Türen hinter dem Orchesterchef und dem Dirigenten des Tourismus in der Gemeinde Sylt. Einer ist sauer, der andere besorgt, zwei Männer tanzen um eine nicht gefallene Entscheidung herum, die perfekt so tut, als stehe sie nicht im Raum, es sollen Worte wie „Illoyalität“ und „unfair“ gefallen sein, beiderseits, und „das nach all den Jahren“. Die Unterschriftensammlung wird wohl „keinen Einfluss auf eine Entscheidung“ haben, sagt Zoltán Kontra später. Im Herbst aber, im Herbst soll es dann so weit sein, eine Entscheidung werde kommen, wenn dann „Planungen“ gemacht werden. Als die Tür sich wieder öffnet, ist viel gesagt, aber weder zu noch ab. Die zwei Männer stellen nach einer Entschuldigung fest, es stehe 1:1 „in Frieden und Freundschaft“, so Kontra. Allein, es ist nur einer, der entscheidet, wie die Partie am Ende ausgehen wird. „Ich hoffe“, sagt Zoltán Kontra fünf Tage später, „ich schieße nicht noch ein Eigentor“.
Der Humor der Ungarn ist fein und manchmal ein wenig verstiegen. „Wir kommen aus Ungarn und das gern, sehr gern“, sagen sie schon mal, gern und garn, passt doch. Wenn man sie um ein ungestelltes Foto bittet, liegt für sie in diesen letzten Augusttagen „alkoholisch“ nicht weit von „authentisch“, es wird ein wenig gealbert, unter dem Tisch steht eine Kiste Ratsherrn, alle leer. So fing das wohl damals auch an, als „die Romadas“, Musikerkollegen und Muschelpartner, gingen nach fast 20 Jahren. Da gab es plötzlich nicht mehr wie all die Jahre zuvor früh in der Spielzeit schon den Folgevertrag. Was für Sommermusiker Härten haben kann: Wer dann erst ab Herbst sucht, weil es keine Vertragserneuerung gab, der ist in der Regel zu spät dran, alles für die kommende Saison längst festgezurrt. Niemand wartet auf Entscheidungserwarter, schon gar nicht im Tourismusgeschäft.
Sind wir zu teuer, fragt sich Zoltán Kontra heute leise beim Aufbau, wir hätten mehr reden sollen, denkt er wohl, „eine Woche später anfangen, eine Woche früher aufhören können“, sinniert er, „uns schrumpfen vielleicht“, denn er weiß, „wir waren in Deutschland die letzten, die in dieser Stärke unterwegs sind, das ist wirklich eine sehr, sehr außergewöhnliche, exklusive Leistung hier, die Sylt den Gästen bietet“.
Und so schwankt er nicht nur grammatikalisch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, allein, viel Hoffnung schwingt nicht mehr mit. Disco könne doch neben Klassik existieren, mahnt er, mit ausholenden Händen, wenn das dann das Anstatt wäre, das wäre bitter, letzten Sonntag war er dabei. Tausende tanzten. „Hüpfen“, nennt er das, handsup, handsup, handsup, immergleiche Basslinie, sowas hört der Musiker, auch wiederholen sich Songs. Nun, ja. Was gibt es jetzt schon noch zu sagen. „Wir tun unser Bestes, unsere Leistung bleibt unverändert bis zum letzten Ton“. So wie immer. „Nichts Schlimmes für niemanden“, wünscht Zoltán Kontra, aber eine „Respektlosigkeit“, die fühlt er schon irgendwie, die scheint echt weh zu tun, auch, wenn er offen lässt, wem respektlos begegnet wird. Dem Orchester? Der klassischen Musik? Den Fans? Dem Fortschreiten der Zeit?
Sundowner, Camerata, Musikmuschel: Was hat Sylt jetzt von diesem Sommer? Das Auflegen ist mittlerweile als Allheilmittel gegen Krisen jeder Art hier angekommen. Du willst drei Drinks mehr in der Friedrichstraße („To go“) verkaufen? Leg auf. Zuwenig Reservierungen? Leg auf. Die Kollegen schwächeln? Leg auf. Du weißt jetzt auch nicht? Leg auf. Kaum Kunden in der Umkleide? Leg doch mal auf. Und so legt sich über vieles hier immer öfter ein Musikmash, der weiter entfernt von Klassik nicht sein könnte.
Ist das nun traurig? „Ist wie es ist“ und „Aaaalles gut“ sind die 2024er Beschwörungsformeln der Insel. Nach Corona und in einem etwas zickigen Sommer, der alles nur keine Verlässlichkeit mit sich brachte, weder, was das Wetter, noch, was Erkältungen, Mitarbeiter und das Buchungsverhalten anging, geben sie Halt. Der Camerata allerdings nützt das möglicherweise nichts mehr, wahrscheinlich, jetzt sind sie wohl to go. „Ich bin 72, ich bin Rentner, ich bin alt, ich bin irgendwie egal,“ sagt Zoltán Kontra, „aber für die Jungs, das ist hart“. Für manche Gäste und Anwohner sicher auch, die zuletzt so viel und oft kamen wie lange nicht mehr, aber Klassik, meine Güte, wer hört denn sowas noch?! Kinder, sagt Zoltan, vielleicht, um auch mal was Erfreuliches zu sagen, „Kinder waren in letzter Zeit viel mehr unter den Zuhörern“, das tat gut.
Gut tat auch „die Camerata“ der Insel, sie hat ihr vieles gegeben. Die Erkenntnis, dass nicht nur laute Töne schöne sein können. Das Wissen, dass manchmal vielleicht doch lange an Dingen festgehalten werden könnte, die sich „nicht rechnen“ und „nur“ der Seele guttun. Daran sollte man sich erinnern. Die Camerata aber, die wird auch zurückblicken auf einen Sommer, bei dem sich gen Ende eine zarte, eher leise Kollegen-Solidarität breitmachte, die etwas Rührendes hatte. Mr. Memories schaute vorbei mit seiner Gattin, eine stumme Umarmung an einem Dienstagabend. Der Ex-Kollege, der irgendwann nicht mehr mit zurückreiste sondern auf Sylt blieb und hier die klassische Bläserehre aufrechterhält, er stieg mit seinem Sohn auf die Bühne, für nur ein Stück, nochmal mitspielen. Der Junge half dann beim Abbauen. Nie machte das Publikum so lautstark mit, wie in den letzten Wochen, wenn Zoltán Kontra sagte, „Liebe Gäste, das wars“. Dann schallte ihm ein vielstimmig großvolumiges enttäuschtes „Ooooh“ entgegen von den Bänken, nur um sofort in ein begeistert anschwellendes „Aaaah“ überzugehen, wenn die obligatorische Ansage folgte, „es kommt jetzt unser letztes, na gut, unser vorletztes Stück“.
Und sie spielen. Wie immer und doch etwas anders als sonst. Etwas weniger gefällig, etwas energischer, manchmal jazziger, irgendwo zwischen Untergang und Überschwang, was ja Großes hervorbringen kann, nicht ganz so eingängig. Ein kleines, klares Nein zur duchgedudelten Klassik in der Werbung und vielleicht auch zum Mainstream, der mehr Bass will, eine melancholische Freude für alle, die so oft zuhören konnten, dass es ihnen auffiel.
Respekt und so: Das Saison-Abschiedskonzert der Camerata Budapest findet statt am 31. August 2024, um 15.30 Uhr, Musikmuschel, Westerland. Geht mal hin, bitte. Auch, wenn dieses vielleicht letzte nach 27 Jahren euer erstes Mal sein sollte.