Sandräuber-Bilanz
Immer im frühen Frühjahr machen Küstenschützer, Umweltpolitiker und Landesbedienstete zusammen mit den Lokalmatadoren der insularen Szene „Strandbereisung“. Hinter dem für eine touristisch versierte Insel etwas merkwürdig klingenden Titel des Events verbirgt sich die vielleicht wichtigste Sylter Bestandsaufnahme des ganzen Jahres, eine stundenlange Tournee von Hörnum bis List mit kraftstrotzenden Allradfahrzeugen: die Küsteninspektion, bei der man gemeinschaftlich mit Intuition und erfahrungsgeschärfter Schätzroutine feststellt, wieviel Sand das Meer sich diesmal wieder geschnappt hat im zurückliegenden Winter, wieviel Sylt es also verschlungen, nach Amrum rübergeschafft oder von der Westseite auf den Ostrücken umgeschaufelt hat.
Wie sehr sich die Inselsilhouette unter den sandräuberischen Attacken der Stürme immer wieder verändert, zeigt das Strandprofil im Frühling beeindruckend. Wie tief verbuddelte Kindheitserinnerungen aus dem Unterbewusstsein tauchen plötzlich und völlig unvermittelt Holzbuhnen aus den frühen 1920er Jahren auf, die man jahrelang nicht mehr oder tatächlich so noch nie gesehen hat. Bunkerteile oder Fundamentreste werden freigespült, die man längst verschütt geglaubt. So vor Westerland, als sich Ende Februar („Neu, jetzt mit Felsenküste“) riesige Findlinge vor den Tetrapoden stapelten. Der attraktiv-massive Spuk verschwand übrigens nach einer langen Ostwindperiode genauso schnell wieder, wie er aufgetaucht war, als der Wind auf West drehte und zusammen mit dem Meer die Sanddecke wieder drüberbreitete. Und auch vor List, nhe Strandabschnitt „Abessinien“, tauchten aus dem Sand seepockengenarbte Holzbuhnen in breiter Phalanx aus dem Strandprofil auf, die lange nicht das Tageslicht gesehen hatten.
Das Ergebnis der Strandbereisung 2016? Auch in diesem Jahr werden wieder über eine Million Kubikmeter Sand auf Sylt „vorgespült“ an insgesamt zehn Küstenabschnitten, was wiederum das Land Schleswig-Hosltein um und bei 7,2 Millionen Euro kostet. Nix abkriegen wird dabei das so mitleidig wie erregt („Rettet die Odde“) bei jeder Sturmflut beobachtete südliche Ende Hörnums, wo sich der Sandverlust besonders dramatisch und plakativ manifestiert. Zum Vergleich: Was früher eine stundenlange sonntägliche Spaziergangszumutung für alle Inselkinder war („Waaas? Einmal um die gaaaaanze Odde?“) ist heute bei Ebbe nur noch eine kleine Halbe-Stunde-Runde, der man bereits ansieht, dass sie in Kürze noch knapper ausfallen wird, wenn das Wasser durch die Dünen brechen und Sylt für kurze Zeit eine vorgelagerte und dem Untergang geweihte Mini-Insel bescheren wird. An der Odde beschränken sich die Küstenschutzmaßnahmen vielmehr auf den Schutz des „besiedelten“ Bereichs durch das gewaltige Querwerk aus Tetrapoden und durch Aufspülungen an der Westküste, die Odde selber überlässt man ihrem Schicksal. Die einen sagen, weil sie ohnenhin nicht zu retten ist und man der Natur ihren Lauf lassen müsse, gegen das Wasser käme niemand an. Die anderen schimpfen, dass die Auflösung des Inselsüdens durch die Errichtung des Querwerkes sogar noch forciert wurde, weil sich neue brutale Strömungen und Verwirbelungen durch das Bollwerk bildeten. Wer hat recht? Selber einmal rumwandern, eigenes Bild machen, bitte.