12 Gründe, warum Sylt eine dänische Abgasvergiftung gut tun kann

Vor Kurzem fand in Lakolk, auf der Nachbarinsel Rømø, also sozusagen nebenan von Sylt, das 3. Rømø Motorfestival statt. Und das geht so: Über 100 Zwei -und Vierräder, geboren achtzehnhudertkeineahnungwann bis ungefähr 1950, treffen sich auf dem platten, endlosen Sandstrand, um auf 208 Metern Beschleunigungsrennen gegeneinander zu fahren. Wahrscheinlich im Ko-System, so ganz durchsichtig war das nicht, und damit sind wir mitten im Thema.

Es gab nämlich: keine marktschreierischen Mitteilungen, keine Sponsorenbepflasterung, keine Flyer, keine Folder, keine Wegweiser, keine Dauermusik. Keine gewaltige Beflaggung und Plakatierung gierig auf Zielgruppenerweiterung schielender Konzerne, die sich gegen Bezahlung mehr oder weniger sinnentleert, dafür aber fordernd „einbringen“ und eine wirre „Winwin-Lage“ konstruieren. Hier an dieser Stelle drängt sich die Erinnerung an ein Dosensuppenengagement beim Sylter Surfcup auf, genau, das war bei jenem Cup, wo auch ein Champagnerhersteller große Präsenz kaufte und zeigte. Oder an die widersprüchliche Vermarktung einer Insel als „natürlich und ursprünglich“, die zeitgleich auf Kfz-Promotion setzt, als gäb’s kein Morgen und gestern keinen Abgasskandal.

An einem Samstagnachmittag auf dem breiten Sandstrand vor Lakolk erfährt Sylter Nachdenklichkeit eine wundersame Linderung, ausgerechnet bei einem skurrilen Autorennen. Jaja, ist klar, dabei kommt auch CO2 raus, aber nur an einem Tag. Danach wird es hier auf Rømø wieder so ruhig, dass schon der schlichte Austernfischer als Krachmacher firmiert.

Es gab anscheinend nur zum Finale, also gen Ende des Renntages, überhaupt eine Lautsprecherbegleitung, und die war natürlich auf Dänisch, durchmischt mit etwas Englisch. Keine Dauerbeschallung, keine Nonstop-Beplärrung, bei der jeder Lautsprecher den nächsten zu übertönen sucht, hmtzhmtz, kein ständiges Angeschreie, wie endgeiel hier alles sei und jetzt ma alle Leute, Hammer, Selfie, Selfie. Keine Verkehrslenkung, kein Anreisechaos, obwohl es sich staute, ja und wie. Aber die Rømø-Syltfähre, übrigens auch Dänen am Ruder, wartete dann halt einfach eine halbe Stunde mit der Abfahrt und schon der Stau war Happening genug.

Großartige Boliden, wunderschöne Oldtimer und schräge Youngtimer, ein Simca, haha, hast du den Kadett A gesehen, durchgestylte und dem Fahrzeugbaujahr angepasste Hillbillys, Rocker, Hipster oder auch einfach offensichtlich Immer-noch-Erstbesitzer, blubberblubber. Dänen, Schweden, Finnen, Engländer, Deutsche, ein Ungar, stilecht zurechtgemacht oder einfach wie immer, ein vergnügter Mix, eine endlose Warteschleife, cruisin‘ for burgers. Links und rechts der Straße auf den Parkplätzen: gestrandete alte Schätze, die reanimiert wurden oder gelassen auf den Falck-Abschlepper warteten, hier qualmte es aus der Motorhaube, da orgelte ein Anlasser ins Leere, leider nicht ganz geschafft, die Anreise, was soll’s. Man stellt sich unwillkürlich vor, dass alle auf ein Ziel zulaufen, das ist die Startlinie des Rennens, und nur die allerbesten schaffen es bis dahin. Die anderen, die fallen, quer durch Skandinavien, am Straßenrand, alle paar Kilometer einer, nach und nach aus. Allein das ist schon eine sehenswerte Show: Mitten im dänischen Nichts kommt dir ein Mann in Lederkombi (auch der Vintage und eventuell noch am Erstbesitzerkörper, Reißverschluss am Fußgelenk auf und du hast Schlag) mit einer Batterie unterm Arm entgegen. Es könnte sein, er hat eine RSA so umgefrickelt, dass die passt, aber vielleicht geht es tatsächlich auch um eine Norton, die viel älter ist als er?!

 

Unterscheiden tut der Kenner hier sicherlich zwischen unglaublichen Freestylern mit Nähe zu Dragsterrennen oder ähnlichem und den Puristen, die das Original aufwändigst hegen und pflegen. Die Mehrheit der Unbezahlbaren reist im Extraanhänger an, der ist anschließend ein tolle Aussichtsterrasse für die races. Bierpallette links, Campingklappstuhl unterm Hintern, Hund (wahlweise auch das Kind, die Freundin, der Werkzeugkasten, der Freund, Gatte, Schrauberkumpel) rechts.

Abgesperrt ist das Rennareal mit einem einfachen Flatterband, jeder hält sich dran. Nicht allen ist wahrscheinlich der Hintergrund der Veranstaltung bekannt, nämlich dass diese Menschen im Norden schon immer eine Vorliebe für Autos haben. Mit allem Scheiß, der dazugehört. 12 Zylinder, Extralöcher im Auspuff und Trommelfell, Lockenwickler, Goldkettchen, Fehlzündungen, heiße chicks und coole bros, Bier und Style bis ins letzte Detail und so, nicht selten haarscharf wegen genau dieses Hobbys am finanziellen Komplettruin ganzer Dynastien entlangrollend, und dass sie naturgegeben deswegen auch Autorennen mögen und schon immer an unmöglichen Orten gefahren sind, war ja sonst nicht viel los hier. Öffentlich oder heimlich. Nachts auf der Hauptstraße. Bei Petersen auf der Wiese. Auf Sylt auf dem Flughafen. Und auf Fanø, einer dänischen Insel, die nur im Süden bei Sønderho versucht, ein stilvolleres Sylt zu sein, am Strand, bis in den frühen 1930ern ein grauenvoller Unfall geschah, bei dem ein 15jähriger und ein sich lösendes Rad eine Rolle gespielt haben sollen.

Irgendwie muss sich die Erinnerung an großartige, verrückte Rennen mit außergewöhnlichen Fahrzeugen trotzdem in das kollektive Gehirn Dänemarks gebrannt, dort Jahrzehntelang geschwelt, schließlich einige Enthusiasten mobilisiert haben und so kommt es wohl, dass seit nunmehr drei Jahren am Strand von Lakolk Rennen gefahren werden. Das Partybeiprogramm ist dabei mindestens genauso wichtig, wie das race. Wo das genau ist? Du wirst es schon finden.

Die Veranstaltung ist im Fluss, sie wird größer und verrückter und lustiger von Jahr zu Jahr, die Dünen sind Tribünen, und man möchte dieser Raserei endloses Leben und vielleicht nicht zu viel Aufmerksamkeit wünschen, damit sie ihren Charme bewahrt. Aber vielleicht bewegt sie auch viel mehr, als nur historische Fahrzeuge. Die gemeine Sylterin jedenfalls steht mit hüpfendem Herzen am Rande, schaut, hört, inhaliert, spürt einen abgasinduzierten Reizhusten und pures, archaisches und ein wenig anarchisches Vergnügen. Daraus kann man lernen, denkt sie und macht sich am Abend danach immer noch hingerissen und ein bisschen verwundert eine touristische, persönliche Merkliste. Auf der steht:

  1. Nicht alle Menschen sind human ressources
  2. Nicht überall muss Rendite optimiert werden
  3. Ausdauerndes Einreden von Glück macht weniger glücklich, als echt dreckiger Spaß
  4. Wer sich nicht verkauft, bleibt unbezahlbar
  5. Es muss nicht überall die Versorgung gesichert sein am Meer
  6. Man kann auch in Dünen pinkeln, ohne dass sie sterben
  7. 2 Menschen können 4 Stunden ohne Essen oder mit 1 mitgebrachten Stulle und 2 Dosen Jever überleben
  8. Verkleiden macht mehr Freude als für Selfies posen
  9. Es gibt Veranstaltungen für 20.000, die ohne security funktionieren
  10. Nichts ist so hinreißend, wie Lebensfreude, die kein Publikum braucht
  11. Es gibt ein Leben ohne Marketing
  12. sales kills enthusiasm