Marktschreierischer Qualkampf

Es ist der letzte Samstag vor der Sylter Bürgermeisterwahl, es ist mal wieder Markt. Selbiger hats nicht leicht, gerät mehr und mehr ins Hintertreffen im Schatten der immer zahlreicheren, immer tolleren (wir liiiieben Lebensmittel!) und immer größeren Supermärkte, sehr zum Leidwesen der Händler, die von der Insel kommen oder mühevoll vom nahen Festland aus anreisen und immer weniger werden. Nix mehr los hier, an den Ständen. Bis der Sylter Qualkampf begann, denn auf der Suche nach geeigneten, werbewirtschaftsfreien Bühnen für den publikumswirksamen Auftritt entdeckten alle sechs verbliebenen Bürgermeisterbewerber: den Wochenmarkt. Da vermutete man als Kandidat den ebenfalls immer rarer werdenden Insulaner. Den Bürger! Und so konnte es an den vergangenen Samstagen vorkommen, dass mehr sozioromantische Kandidaten als Kunden sich in Reichweite der raren Ständen aufstellten. Offenbar fühlt es sich gut an, den möglichen zukünftigen Arbeitsplatz, das Rathaus, im Rücken zu spüren und von dem Gefühl beseelt zu sein, der Sylter Bürger ginge auf den Markt und gerate dort ganz zwanglos Woche für Woche in Kontakt. Nicht mit auf den Markt durften übrigens die Berater, die zusammen mit Lobbyisten unterschiedlichster Herkunft und Motive hinter den Kandidaten stecken. Aber das ist ein anderes Thema, über das zwar überall gesprochen, aber nicht geschrieben wird.

 

Heute nun war also wieder Markttag, der Showdown vor der morgigen Wahl. Selbstverständlich sind nun alle da, alle gleichzeitig, nur die Anfangszeiten variieren, die letzten laufen um 10 auf. Die eine führt routiniert und mit grotesker Penetranz offenbar restlos entjournalisteter Aufnahmeteams ihre vermeintliche „Medienpräsenz“ vor, der andere den wahrscheinlich sehr möglichen zukünftigen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, der deshalb vielleicht heute sowas wie ein allerletztes Mal wirklich mit ganzem Herzen Sylter ist. Strategisch hat er sich überaus günstig (das hat er drauf) und unüberwindlich vor dem Eingang der heute neueröffneten Bäcker-Michels-Filiale so positioniert, dass der eine oder die andere dann doch dort keine Brötchen kauft, weil – man will ja nicht unbedingt reden und vielleicht nicht über Polititk oder jedenfalls nicht jetzt. Einer verteilt leicht resigniert und mit offensichtlich vor allem familiärem Respons sympatisch-schlichte Postkarten, die einen dazu auffordern, die Insel zu lieben, er hat anscheinend eine Bindehautentzündung und wirkt unter seiner Bräune etwas müde, ein anderer verteilt Würstchen, oder war es Tee, ein Weihnachtskeks oder doch ein Flyer?! Einer diskutiert am Stand der dänischen Minderheit herum (Da! Schon wieder etwas Sylt, was immer weniger wird!), und der sechste muss hier auch irgendwo sein, eben war er noch da.

Doch, die Menschen wollen reden. Miteinander und in sicherem Abstand zu dem ganzen Zirkus, nachdem man einmal den Markt querte. Es sind heute so viele Archsumer, Morsumer und Keitumer in „der Stadt“ unterwegs, wie sonst nie. Man steht vor dem Reisebüro oder an der Ampel zur Strandstraße, man macht kleine Grüppchen oder Häufchen, drei Leute hier, rasch werden es fünf und da drüben stehen auch schon drei. Man schielt rüber zu den Kandidaten, beobachtet, fremdelt, hält Abstand. Grotesk sei das alles, schrecklich, und eigentlich müsse man sich doch Morgen entscheiden zwischen Pest und Cholera, ernsthaft geeignet sei doch offenbar keine/r der Kandidaten, so wird gesprochen. Ob die Dame aus dem Süden, die seit einigen Tagen tatsächlich verkündet, sie sei schon seit einem guten Dreiviertjahr Insulanerin, was man definitiv und echt in der dritten Generation noch nicht mal sein kann, eine Chance habe? Niemals, sagen die allermeisten, sie glauben an den Verstand der Sylter, an „das Gute“, sie haben „die Hoffnung noch nicht aufgegeben“, dass die ganze Bayern- oder Franken-Nummer eine mediale Seifenblase sei. Jemand sagt, sollte sie gewählt werden, täte auch das irgendwie passen, dann bekäme die Insel das, was sie verdient habe und dann solle nochmal einer meckern über die schlechte Außendarstellung der Insel, alles hausgemacht. Grummel. Ist doch wahr. Eine junge Mutter mit drei Kindern merkt an, der Wahlkampf, der sei ja „ein bisschen wie auf dem Festland“ gewesen und fragt sich, warum man sich eigentlich so gar nicht an den von der Reiber erinnern könne?!

Im Sportverein stimmen sie am Stammtisch ab (eine Mehrheit für die Pauli, knapp vor Häckel und Reinartz, die gleich auf). Bei den Jüngeren kommt der „schwule Biertrinker“ gut an, weil er so authentisch wirkt, so gradeaus, so wenig verlogen, so nett, was aber ist, wenn da gar nichts ist hinter dieser Fassade?, mahnt eine. Auf einer Geburtstagsparty basteln sie aus einem Karton eine Urne und wählen spontan (Lars Schmidt: 1; Markus Ballentin: 1; Bernd Reinartz: 2; Dr. Gabriele Pauli: 4; Nikolas Häckel: 11; Robert Wagner: 18; Ungültig: 1 ). Ganz Kecke sagen, als Protestwähler kannst du nur den einen wählen, nämlich den, der wegen seiner parteimäßig sehr wechselvollen Vorgeschichte und seiner Zeit in der Sylt-Oster Politik „gar nicht geht“, damit sei dann „deine Stimme tot, aber doch immerhin irgendwie dagegegen“. Gegen was genau?

Was wählstn du?, ist in diesen Tagen die am häufigsten auf Sylt gestellte Frage. Die meisten sagen offen: Ich weiß es noch nicht, wobei das „noch“ blasphemisch erscheint. Was soll denn da noch kommen, außer dem Zufall, dass aus dem skeptischen Zögern eine demokratische Entscheidung werden kann? Vor allem scheint das „noch“ aber dafür zu stehen, dass eigentlich keine/r der sechs Anwärter/in jemand zu sein scheint, der der oder die richtige ist. Zu rasch haben alle die wirklich drängenden insularen Probleme oberflächlich und effektheischend inhaliert und sich zu angeblich Ureigenstem gemacht, zu vehement hat jeder einzelne suggeriert, er oder sie sei der oder die richtige, das Ruder herumzureißen. Zu genau weiß doch jeder Sylter, dass ein Bürgermeister das alles gar nicht richten kann. Womit wir langsam zum wirklichen Kern des Sylter Qualkampfproblems kommen: Jeder von uns kann sich an die eigene Nase fassen – schließlich haben alle gemeinsam nicht dafür gesorgt, dass vernünftige, wählbare Kanidaten auftauchten, was Bände über die wirklichen Sylter Probleme und ihre Ursachen spricht.

 

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