Biike 3.0

Wie so Vieles auf Sylt, lebt auch der Mythos Biike von Extremen. Auf der einen Seite stehen jene, die den 21. Februar zum vorsaisonalen Verkaufsschlager folkloristisch als „Nebensaisonbeleber“ aufblähten, mit dem sie ihre Appartements, Restauranttische und Kassen zu füllen hoffen. Auf der anderen stehen Einheimische mit dem Bedürfnis nach „ihrem“ Fest, dass sie ganz für sich haben wollen, mit der Sehnsucht nach dem „Echten“, nach dem „Früher“. Dummerweise liegt die Schnittmenge der beiden Extreme sicherlich jenseits der 90 Prozent, was zu einer Grundhaltung vieler Insulaner Ende Februar führt, so kraus, wie der perfekte Grünkohl (der übrigens unbedingt mindestens einmal Frost bekommen haben muss, um echt wie früher zu schmecken).

Wer vom Festland aus anreist, um die zum „friesischen Nationalfeiertag“ hochgegagte Biike mitzufeiern, sollte sich von der Vorstellung lösen, die riesigen Feuerstellen seien von rotnasigen Friesen mit festem Schuhwerk und in ebensolchem Gedenken an ihre walfangenden Vorfahren in wochenlanger schweißtreibender Handarbeit bei stürmischen Gegenwinden pittoresk aufgetürmt worden. Überhaupt: der Nationalfeiertag. Erstens sind wir hier keine Nationalisten, zweitens kann man keinen Sylter nachhaltiger kränken, als ihn mit den norddeutschen und östlichen Restfriesen in einen Grünkohltopf zu werfen, drittens finden wir es natürlich alle ziemlich geil, uns – wenn die Wochentage günstig liegen – mittendrin einmal mit feierlichem Auftrag aus dem Alltag auszuklinken, uns vollzufressen und/oder zu saufen und so richtig auf zweitägigen Ausnahmezustand zu machen, an Biike und dem darauffolgenden Petritag. Allein – das alles macht natürlich noch längst keinen Nationalfeiertag.

Schüttelrüttel Baggerforke, firestarter: Komplett wird die Westerländer Biike heute nochmal mit wirklich trockenem und goldgelbem Stroh eingedeckt

Und mit der Tradition ist das auch so eine Sache. Längst werden die Biiken statt von engagierten Konfirmanden (wieviele davon gibts überhaupt noch hier? Wieder was, was stetig abnimmt) mit schwerem Gerät getürmt, heute dringender denn je. Denn die vergangene Woche, sie war trüb, regenschwanger, neblig und von jener hohen Luftfeuchtigkeit, die auch Dünnhaarigen eine krause Mähne beschert, hat sämtliche Inselbiiken so nachhaltig durchnässt, dass für heute Abend mindestens eine riesige Qualmerei zu erwarten ist. Schlimmstenfalls sogar, dass die Biiken gar nicht oder nur sehr schwer angehen werden. Westerland also hat heute Morgen seine Biike noch einmal von einem akribisch und liebevoll vorgehenden Baggerfahrer komplett mit perfekt durchgetrocknetem Stroh als Anzünder verkleiden lassen. Übrigens: Der Wind weht heute unter krallem Himmelblau stramm von West. Wer sich hier auf der straßenzugewandten Biikeseite positioniert heute Abend, der weist sich als „Touri“ aus, was ein Schimpfwort sein kann, oder etwas freundlicher formuliert als „Badegast“, was ein Relikt aus der großen Aera der krankenkassenfinanzierten Kuraufenthalte ist, also auch irgendwie schon fast Foklore. Beides wird für tagelanges intensives Raucharmoma am Körper sorgen.

Tradition? Ach, was. Moderne! Richtungsweisende Toiletten-Initiative in Westerland: Herren links, Damen mittig, rechts bitte gemischt

Apropos: Biike 3.0. verlangt inzwischen wegen der steigenden Nachfrage auch nach Mobilklos, die noch etwas grotesk am Rande der Dünen herumstehen und wiederum alles Gerede von der alterhergebrachten Friesenfeiertags-Tradition Lügen strafen. Denn hier zeigt sich, wie modern, wie trendy, wie wegweisend die Inselmetropole an einem solchen Tag sein kann: Während anderswo noch die Genderfrage erregt am WC dikutiert wird, hat Westerland längst souverän der potenziellen Diskriminierung mit drei Modulen getrotzt, links bitte die Herren, mittig die Damen, rechts die Unisexer/innen.

Wenn wir jetzt schon bei Randthemen sind, hier noch zwei weitere entsprechende Hinweise zur Biike 2017. Dieses Jahr hätte es fast die Tinnumer erwischt, schon am Donnerstag vor einer knappen Woche kokelte der örtliche Haufen dort plötzlich bedenklich, allzu spät hatte man hier offensichtlich die Biikewache angesetzt. Oder das mögliche Aufflackern von Resttraditionen tatsächlich unterschätzt: Früher war es nämlich durchaus üblich, dass man als Sylter danach trachtete, mehr oder weniger beliebten Nachbardörfen den Haufen vorab abzufackeln. Zuletzt war Kampen vor ein paar Jahren dran, was für eine Schande, was für eine unglaubliche Blamage. Nach dem zweiten Versuch wurde dort schließlich eine professionelle Biikewache engagiert, übrigens exakt von dem festländischen Unternehmen, das auch die Besoffenen des Surfcups schon häufiger erstklassig disziplinierte und vom Festland stammt. Genau, da fehlten sie doch schon wieder, die oben erwähnten Insel-Konfirmanden. Deren Job war nämlich früher, neben dem Einsammeln des Baumschnitts mit dem Trecker, auch die nächtliche Biikewache, die schon mal einen intensiven Grundkurs im Biertrinken und Zigarettenrauchen einschloss, also eine Art heute angesichts des Gesundwahns recht schräg anmutender Sylter Initiationsritus war.

Achtung, hysterische Heulanfälle möglich: Mamaaa, Papaaaaa, war das etwa wirklich UNSER Weihnachtsbaum?

Kaum noch Konfirmanden, immer weniger Trecker – rund um die Biike versanden die Traditionen schneller, als dein Fuß im Treibsand. Dieses Jahr wäre es beinahe zu einer gewaltigen Revolution in der Gemeinde Sylt gekommen, als der Bürgermeister angesichts der prekären Haushaltslage anregte, man könne 15.000  Euro einsparen, wenn man auf die ebenfalls fast traditionelle Abholung der Weihnachtsbäume in der ersten Januarwoche verzichte und stattdessen jede/r seinen selber zu Sammelstellen oder der Biike chauffiere. Von öffentlicher Beschimpfung bis hin zum anarchistischen Baum-einfach-auf-die-Straße-werfen reichten die Trotzreaktionen, und so zog die Gemeinde die Idee zurück. Sie werden also dieses Jahr zahlreiche Weihnachtsbäume brennen sehen, die mit leichter Verspätung und wieherndem Amtsschimmel eintrafen. Man könnte sich aufregen. So wie die Kinder, die meinen „ihren“ Weihnachtsbaum im Scheiterhaufen zu entdecken. Oder wie der Eingeborene, der es hasst, wenn ihm schon vor der Biikeansprache zahlreiche Gäste entgegenkommen, die dem Feuer umgehend den Rücken kehrten und nun aber direkt zu ihrem für 19 Uhr reservierten Tisch rennen. Man könnte sich aufregen über Gäste, die mit Pelzmantel zum Feuer stapfen und sich dann aufregen, wenn Wachs drauftropft, über Multifunktionsklamottenliebhaber, die bei Funkenflug hysterisch mit den Armen fuchteln, über wegelagernde und völlig unpassende Glühweinverkäufer, die ein Geschäft wittern, über Hotelarragements, die „Traditionskohl“ im Halbstundentakt servieren, damit auch noch ’ne Belegung von außen zusätzlich reinpasst an diesem Abend. Man könnte sich ärgern über Fotografen, die zeigen wollen, dass sie jetzt auch eine Drohne haben und mit ihrem tinnitusartigen Rotormotorsirren das Feuerprasseln zerschneiden, man könnte sich ärgern, dass niemand mehr fehlerfrei „Üüs Söl’ring Lön“ singen kann und keiner zuhört, wenn die Biikeansprachen aus den Lautsprechern knarzen.

Diesmal mit leichter Verspätung und viel Diskussionen zum Biikehaufen angereist: Westerländer Weihnachtsbaum

Man kann sich aber auch einfach freuen. Dass heute allen Unkenrufen und Traditionskillern zum Trotz eine ganz besondere Atmosphäre auf der Insel herrscht. Dass eine glückliche Aufgeregtheit über allem liegt, dass das Telefon klingelt und die beste Freundin fragt, und, was macht ihr heute Abend, dabei macht man doch jedes Jahr wie alle das gleiche an diesem Tag. Fluchen, weil wieder kein Bierdeckel für die Fackel als Wachsschutz im Haus ist, am Feuer rumstehen, bis die Nase heiß und das Heck eiskalt ist, ins Feuer starren und sich dabei festgucken, die Kinder heimlich zündeln und viel zu spät ins Bett lassen, auf dem Rückweg vom Biikeplatz fast verhungern, und kurz vor dem rotwangig-ins-Bett-Sinken drei Schnäpse zuviel trinken. Biike ist und bleibt eine extreme, aber immer noch heißgeliebte Tradition.